Nicht alle Deutschen gehören zu der Verbrecherbande, der ‚Deutsche‘ als solcher ist kein Verbrecher. […] Die Deutschen müssen Verantwortung tragen. Verantwortung ist jedoch nicht dasselbe wie Schuld. Diejenigen, die an den nazistischen Verbrechen nicht schuld sind, können sich gleichwohl nicht [der Verantwortung für eine] Politik entziehen, der sich ein großer Teil desselben Volkes bereitwillig angeschlossen hatte.
| Aufgabe 1a: |
| Aufgabe 1b: |
| Aufgabe 1c: |
Der Onkel fragte mich über meine Zeit in Russland aus. Ich sagte, ich sei nicht besonders böse, diesem Land den Rücken gekehrt zu haben, die Gegend sei nicht mein Geschmack. Und auch die Art unserer Kriegsführung sei nicht mein Geschmack, man mache sich keinen Begriff, unsere Brutalität ... Aber der Onkel unterbrach mich, die Hauptsache sei, man halte durch bis zum siegreichen Ende. / Um mich nicht tiefer ins Thema kommen zu lassen, erkundigte er sich nach dem Lazarett. Ich berichtete, die Krankenschwestern seien Diakonissinnen gewesen, die katholischen Schwestern seien die beliebtesten auch bei denen, die sonst allenfalls an den Teufel glaubten. Er lachte hustend und meinte, die Pfaffen kämen schon wieder durch die Hintertür. / »Das könnte auch Papa gesagt haben.« / Aber genaugenommen stimmte es. Das Lazarett war eine Hintertür des Krieges, ich war froh, sie benutzt zu haben. Ich erinnerte den Onkel an die Redensart, dass der Weg in die Heimat übers Lazarett führe. Er sagte: »Siehst du, es ist an allem etwas Wahres dran.« (S. 37f.)
Die Abschätzigkeit, mit der der Brasilianer über den F. sprach, fand ich auch diesmal gewagt, die Partei war die Sinngebung meiner Jugend gewesen, und ich konnte mich auch jetzt von dem Gedanken, dass der F. ein großer Mann war, nicht gänzlich freimachen. Ich bat den Brasilianer, vorsichtiger zu sein mit dem, was er sage, es gebe Gesetze, die solche Reden verbieten. Er lachte traurig: »Man kann sich doch nicht jahrelang blöd stellen, das hält kein Mensch durch, am Ende werde ich noch verrückt, es fehlt ohnehin nicht mehr viel.« [...] (S. 135)
Die Darmstädterin sagte, ich solle erzählen. Ich erzählte von Wien und von den Eltern. Dann sagte sie, ich solle ihr vom Krieg erzählen. Ich sagte, für mich sei er ein grauenhafter Leerlauf gewesen, und trotzdem sei mir vorne nicht allzu viel entgangen. Womit ich meinte, dass ich alles gesehen hatte, was niemand sehen will. Wenn ein Dorf im Weg gestanden sei, hätten wir es ein- fach weggewischt mit Jung und Alt. Dann seien zwischen den Schutthaufen und den Leichen nur noch ein paar zerzauste Hühner herumgelaufen. Die russische Bevölkerung habe sich in Erdhöhlen eingegraben, mit ein paar Brettern überdeckt, ein wenig Stroh drin, die wenigen Habseligkeiten, die sie retten konnten. Furchtbare Bilder. / »Die Menschen waren so elend und ausgehungert...wenn wir nur ein leeres Papier wegwarfen, stürzten sie sich darauf wie Verrückte. Und die Alten küssten einem die Hand, wenn man ihnen ein Stück Seife oder Brot überließ. Und wenn Kinder den Soldaten die Stiefel küssten, hätte ich wetten können, dass hier gerade Entsetzliches passiert.« Ich sagte: »Schade, dass das, was hinter mir liegt, nicht mehr geändert werden kann.« (S. 198f.)
In Russland, ganz am Anfang des Feldzuges, hatten wir uns mit der Bevölkerung so leidlich un- terhalten, die Leute hatten Mund und Augen aufgesperrt, als einige Soldaten Bilder von der Heimat und von ihren Wohnungen zeigten. Die Russen fragten, was wir hier wollten, wo wir es zu Hause so schön hätten. Davon berichtete ich Papa. Immerhin war Papas Geschwafel vom unausbleiblichen Sieg endgültig abgelöst worden vom Geschwafel, dass es eine Niederlage nicht geben dürfe. Dürfe – dürfe – dürfe. Aber natürlich fragte niemand bei Papa um Erlaubnis. Und was mir ebenfalls gleich am ersten Abend auffiel, Papa sagte, wenn er vom Krieg redete, nicht mehr unablässig bestimmt und mit Sicherheit, sondern hoffentlich. Sein neuer Lieblingssatz war: »Hoffentlich halten wir überall durch.« Weil Papa nun einmal mein Vater war, verzichtete ich darauf, ihm meine diesbezüglichen An- sichten in allen Verästelungen darzulegen. Aber er spürte, dass ich versuchte, ihn zu schonen, und das reizte ihn, weil er, nicht ganz zu Unrecht, den Eindruck hatte, ich würde ihn von oben herab behandeln. Er schnauzte mich an, er komme sich vor wie der letzte Dorftrottel. Ich sagte: »Dorftrottel sind wir alle.« Zu Silvester 1938 hatte Papa mit erhobenem Glas gesagt: »Was für ein Jahr für mich und die Welt!« Und ich hatte ihm zugeprostet. (S. 218)
»Gib’s zu«, sagte ich, »hier auf dem Posten würdest du den Krieg noch leicht zehn Jahre aus- halten.« / Da wurde der Onkel böse. Mit seiner Zigarette gegen alle Argumente anfechtend, behauptete er, dass er seinen Krieg schon längst überlebt habe, er brauche sich keine Vorwürfe machen zu lassen. Und dass so junge und vorlaute Spunde wie ich ihren eigenen Krieg erst ebenfalls überleben müssten, sei eine große Genugtuung für einen alten Mann wie ihn. / »Es ist nicht mein Krieg«, sagte ich. / »Und wer hat einen Beute-Citroën bis in die kasachische Steppe gelenkt und sich jahrelang im Sowjetreich herumgetrieben? Hattest du dort einen Doppelgänger?« Ich schlug die Augen nieder und schwieg. Wenn ich ehrlich war, hatte der Onkel recht, es war auch mein Krieg, ich hatte an diesem verbrecherischen Krieg mitgewirkt, und was immer ich später tun oder sagen mochte, es steckte in diesem Krieg auf immer mein Teil, etwas von mir gehörte auf immer dazu, und etwas vom Krieg gehörte auf immer zu mir, ich konnte es nicht mehr ändern. (S. 347)
Ich vermochte mich nicht zu entschließen und ließ den Onkel reden, bis er ganz unsicher ge- worden war und nicht mehr weiter wusste. »Es ist schon genug Unheil angerichtet«, sagte er. Und dieser Satz ließ alle Schäbigkeiten des Onkels aufleben, und ich hatte kein Mitleid mit ihm, wie er nie mit irgendwem Mitleid gehabt hatte. Und das Pervitin war bestimmt auch nicht ganz schuld- los, dass ich abdrückte. Es erforderte gar nicht so viel Mut, aber wohl war mir nicht dabei, und ich konnte im nächsten Moment auch nicht glauben, dass ich soeben das Gute vollbracht hatte, das jeder Mensch in seinem Leben vollbringen soll. Von gut war alles weit entfernt. (S. 365)
Je näher ich der Ortschaft Berg kam, desto deutlicher nahm ich die aufgerissene, aufgewühlte Erde wahr, desto mehr Höcker aus Beton und Stacheldrahthindernisse tauchten auf. Aus einiger Entfernung sah ich, wie ein Zwangsarbeiter am Rand eines in Bau befindlichen Panzergrabens von einem Wachmann mit dem Stock geschlagen wurde. Der Zwangsarbeiter fiel zu Boden und war für mich nicht mehr zu sehen, aber ich sah den Wachmann und den immer wieder in die Höhe gehenden und dann niedersausenden Stock. Kein Laut drang herüber, kein Schreien und kein Stöhnen, über allem lastete eine vereiste, merkwürdige Stille, es war ein kalter, trüber Tag, in dem alles verschwamm. / Und der Arm mit dem Stock ging auf und ab wie von einer Schnur gezogen. Wer hielt diese Schnur? Ich? Mag sein. (S. 451)
Während des Vormarsches in der Ukraine war mir nicht entgangen, dass im rückwärtigen Heeresgebiet Erschießungen stattfanden. Aber ich war so sehr mit meinem eigenen Los beschäftigt gewesen, dass ich mir gedacht hatte: Was gehen mich die Juden an? / Einmal besuchte mich Fritz Zimmermann, er erzählte mir manches Detail, wie es zuging in Wjasma Schitomir Winniza, dabei saßen wir in meinem LKW, und draußen rauschte ein furchtbarer Sommerregen hernieder, das gab den Berichten von Fritz Zimmermann etwas Unwirkliches. / Heute kann ich den Sommerregen und die Erzählungen trennen, sie gehören nicht zusammen. Der Vorgesetzte von Fritz Zimmermann erschoss an Ort und Stelle einen jüdischen Friseur, nachdem dieser ihn beim Rasieren geschnitten hatte. Immer wieder hatte ich von Erschießungsaktionen gehört. Die Familie des Bäckers, bei dem wir während einiger Ruhetage Brot gekauft hatten, sei vor die Stadt geführt, insgesamt vier Personen, und mit Genickschuss getötet worden. Alle paar Wochen hörte ich von solchen Dingen, und wenn ich damit beschäftigt war, meinen LKW zu reparieren, gingen mir Gedanken durch den Kopf, ich stellte mir vor, was wäre, wenn ich zu einer Erschießungsaktion eingeteilt würde. Was ich tun würde? Und wie das sein würde? Und obwohl diese Gedankenspiele nie sehr konkret wurden, machte ich mich mit der Situation vertraut. / Nie hätte ich gedacht, dass ich je über solche Dinge nachdenken müsste. Denn über so etwas nachdenken heißt, sich damit vertraut machen, das heißt, den Begriff von Normalität verändern, langsam in eine andere Normalität hinüberwechseln. (S. 453f.)
| Aufgabe 2a: |
| Aufgabe 2b: |
Mich interessieren die Grautöne mehr als die Schwarz-Weiß-Malerei.
Nicht alle Deutschen gehören zu der Verbrecherbande, der ‚Deutsche‘ als solcher ist kein Verbrecher. […] Die Deutschen müssen Verantwortung tragen. Verantwortung ist jedoch nicht dasselbe wie Schuld. Diejenigen, die an den nazistischen Verbrechen nicht schuld sind, können sich gleichwohl nicht [der Verantwortung für eine] Politik entziehen, der sich ein großer Teil desselben Volkes bereitwillig angeschlossen hatte.
| Aufgabe 3c (i): |
Ich glaube, es ist bis heute äußerst bequem, an dieser Perspektive festzuhalten: Schuld waren die Täter. Man gibt ja auch heute ungern zu, dass neunzig Prozent der Bevölkerung mit dem Strom schwimmen und dadurch für den weiteren Gang der Dinge ausschlaggebend und mitverantwortlich sind. […] So gesehen, der Mensch lebt auch heute unter der Drachenwand.
| Aufgabe 3c (ii): |